Auszug aus der Geschichte: Gesellschaft im Moor


Bevor sie sich endgültig schlafen legte ließ sie den Lichtkegel der Taschenlampe noch einmal über das gesamte Umfeld gleiten, doch außer den leicht wabernden Nebelschwaden erkannte sie keinerlei Bewegung, weder an den Böschungen, noch mitten im Trichter auf der Moorfläche, von der sie jedoch aus ihrer liegenden Position heraus nur den hinteren Teil sehen konnte. Auch die höheren Sträucher und Bäume am Trichterrand standen starr in absoluter Windstille. Als Kiara endlich die Lampe ausknipste, war es stockdunkel; der Nebel hatte den gesamten Wald eingehüllt und ließ keinen Mondstrahl hindurch. In dieser absoluten Schwärze kuschelte sich Kiara so tief als möglich in ihren Schlafsack hinein. Sie dachte noch einen Moment an ihre Dienstwaffe, die unter einigen anderen Dingen im Rucksack verstaut war, Angst verspürte sie jedoch keine; lediglich das Alleinsein hinderte sie noch lange Zeit am Einschlafen. Das war das Dilemma ihres Lebens, dachte sie, das Alleinsein. Bald hatte sie das Gefühl für die Zeit verloren und die Passagen ihres Lebens, die in Form von Bildern vor ihrem geistigen Auge sichtbar wurden, verschwammen mehr und mehr zu flimmernden abstrakten Gemälden, denen jegliche Gegenständlichkeit geraubt worden war. Irgendwann in diesem dämmrigen Zustand, kurz bevor der Schlaf endgültig jede Wachheit aus dem Geist vertrieben hatte, spürte sie einen angenehm kühlen Luftzug im Haar; ihr Bewusstsein jedoch war bereits viel zu stark eingetrübt, als dass sie darin den kalten Hauch des Todes erkannte.
Sie erwachte. Im ersten Moment glaubte sie, ein Geräusch hätte sie geweckt, ganz nahe an ihrem Ohr; ein Geräusch, das sie in ihrem Schlafzimmer nicht zuordnen konnte. Dann war sie sich plötzlich nicht mehr ganz sicher; vielleicht hatte sie auch etwas berührt. Ja, etwas hatte ihre Wange gestreift, oder das Ohr. Hektisch blickte sie sich um, fand die LED’s von ihrem Wecker in der Dunkelheit nicht und erst nach und nach erkannte sie an der kühlen Luft und am unbequemen Boden, wo sie tatsächlich war. Natürlich, das Moor! Sie blickte mit offenen Augen in die Schwärze der Nacht hinaus, ohne irgendetwas erkennen zu können. Ihr Brustkorb fühlte sich heiß an, das Herz hämmerte wild darin; der ungewohnte Umstand, nicht in ihrem Bett aufzuwachen, hatte ihr wohl einen gewaltigen Adrenalinstoß versetzt. Sie riss den oberen Teil des Schlafsackes auf, wollte einen Arm hinauszwängen, um nach der Lampe zu suchen, während sie sich zwang, ruhig zu atmen. Beides gelang ihr nicht. Viel zu eng lag der Schlafsack noch an ihrem Oberkörper, als dass sie die Arme frei hätte bewegen können, und der Druck, den die Beengung auf den Brustkorb ausübte, ließ sie noch schneller, noch hektischer atmen.
»Die Lampe!«, dachte sie. »Ich brauch die Lampe.« Sie wollte sehen; sie wusste, sie würde erst ruhiger werden, wenn sie sehen könnte. Endlich waren ihre Arme frei und ihre Hand zuckte durchs Gras, fand jedoch nur das feuchte, aufgequollene Buch. Die Lampe war nicht da! Mit einem Ruck warf sie ihren Oberkörper dahin, wo die Lampe sein müsste und ihre Hände suchten hastig danach; die Finger glitten durch kalten, schlammigen Boden. Kiara spürte, wie sich Erde unter ihren Fingernägeln sammelte und durch scharfe Grashalme entstanden winzige Schnitte in der Haut. Die verdammte Lampe war nicht da! Jemand hatte sie weggenommen! Jemand war hier, bei ihr im Moor ...


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